„Auf ein Wort“: Interview mit Martin Schenk | Arbeitslosengeld neu, Mindestsicherung neu, Sozialversicherung neu – Die Mechanik im historischen Systembruch in Österreichs Sozialstaatsmodell

Tebel-Report | INTERVIEW

Zur Person: Mag. Martin SCHENK, Vizedirektor der Diakonie Österreich, Mitbegründer der Armutskonferenz, Univ.-Lektor mit Schwerpunkt: Armut, Kinder und Gesundheit. Zuletzt gemeinsame Autorenschaft mit Martin Schriebl-Rümmele: «Genug gejammert. Warum wir gerade jetzt ein starkes, soziales Netz brauchen.» Mit Karikaturen von Gerhard Haderer (Wien: Ampuls Verlag, 2017)

Wie bewerten Sie als Sozialwissenschaftler die Pläne der Regierung für die Reform des Arbeitslosengeldes und der Mindestsicherung sowie die Abschaffung der Notstandshilfe?

Martin Schenk: Es handelt sich bei der angedachten Reform um einen Systembruch zu Lasten der Sicherheit der unteren Mittelschichten. Um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst die Schwerpunktsetzung des österreichischen Sozialstaatsmodells betrachten. Die kontinentaleuropäischen Sozialstaaten wie Deutschland und Österreich fußen auf dem Bismarckschen Sozialversicherungssystem. Die Idee bestand darin, dass das letzte soziale Netz der Mindestsicherung nur dann zur Anwendung kommt, wenn das vorgelagerte Netz versagt. Damit soll der Mittelschicht eine Statussicherheit gewährt und ein ökonomischer wie gesellschaftlicher Absturz verhindert werden. Kurz gesagt: Das hiesige Sozialstaatsmodell versuchte die Mittelschichten zu schützen und möglichst lange zu stützen. Wenn wir jetzt aber dieses vorgelagerte Netz der Notstandshilfe abschaffen, die Arbeitslosenversicherung und die damit verbundenen sozialen Rechte schwächen, gleichzeitig die Mindestsicherung weiter kürzen, dann passiert es, dass die Menschen bis weit in die Mittelschicht hinein viel schneller in das letzte Fürsorgenetz fallen als früher.

Was ist die Folge?

Martin Schenk: Das Ergebnis kennen wir eigentlich schon aus England und auch aus den Folgen der deutschen Hartz-IV-Reform: Angst, Unsicherheit und Druck wird bis tief in die untere Mittelschicht getragen. Teilen wir die Gesellschaft in zehn Dezile ein, betrifft eine solche Reform Menschen bis weit ins dritte und vierte Dezil. Die Umwandlung einer Versicherungsleistung in eine Fürsorgeleistung mit weniger Rechten- das ist Hartz IV. Aus dem angekündigten Sprungbrett in den Arbeitsmarkt wurde in Wirklichkeit eine Armutsfalle. Nur zwölf Prozent stiegen in bessere Arbeitsverhältnisse auf. Es entstanden vielmehr Drehtüreffekte vom schlechten Job zum schlechteren Job. Es passiert eine Prekarisierung, eine Art von Demoralisierung und die Verfestigung einer großen Gruppe an Menschen, die es nicht mehr schafft, aus diesem System aufzusteigen. Die Prekaritäts-Logik verlangt jene qualitativen Ansprüche an Arbeit und Leben aufzugeben, die eigentlich Engagement motivieren. Das Leitbild von Hartz IV klagt etwas ein, das es in der Praxis zertrümmert: Eigenverantwortung und Initiative.

Macht das der Staat, um Kosten abzuwälzen? Immerhin erspart sich der Bund die Kosten der Notstandshilfe und tragen die Länder die Kosten der Mindestsicherung.

Martin Schenk: Die Einsparungen sind relativ gering. Die Mindestsicherung macht nur 0,9 Prozent des gesamten Sozialbudgets aus. Ich denke, dass es um etwas anderes geht: Durch die Einschnitte werden die Mindestlöhne unter Druck gesetzt. Wenn die Menschen Angst haben, leichter in der Armutsfalle zu landen, nehmen sie jeden Job an und sind auch bei Gehaltsforderungen den Arbeitgebern stärker ausgeliefert, nur um nicht „in den Keller zu fallen.“ Dies zeigt auch die Entwicklung in Deutschland: Die fatale Nebenwirkung von Hartz IV war ein riesiger Niedriglohnmarkt, der prekäre und ausgrenzende Arbeitsbedingungen für Hunderttausende gebracht hat. Arbeit von der man nicht leben kann, ist das große verschwiegene Thema hinter der Debatte um die Mindestsicherung.

Die Regierung spricht davon, dass die Reform auf Ausländer abzielt, die erst seit kurzem in den österreichischen Arbeitsmarkt streben. Sie sprechen aber von der unteren Mittelschicht, die Sie mit etwa der Hälfte der Bevölkerung quantifizieren?

Martin Schenk: Unter den Beziehern der Notstandshilfe hast du 80 Prozent Österreicher. In Niederösterreich wurde die Mindestsicherung verschlechtert und damit verkauft, es treffe ja die Flüchtlinge. Die Zahlen haben aber gezeigt, nur jeder siebte von der Kürzung Betroffene ist ein Asylberechtigter, die anderen sechs waren Österreicher – und da Familien, Kinder, Behinderte.

Wieso scheint es in Österreich aber eine Mehrheit für die Reform zu geben?

Martin Schenk: Wenn die Regierung argumentierte, dass sie Kranke oder Menschen mit Behinderung treffen würde, wäre wohl kaum einer dafür. Der Trick besteht darin, auf die Ausländer zu zeigen, aber dann bei allen zu kürzen. Das ist wie bei Trickdieben und erinnert mich an eine Stelle aus Oliver Twist, in der Charles Dickens beschreibt, dass Trickdiebe immer zu zweit auftreten müssen: einer soll ablenken, damit der andere dann die Geldtasche herausziehen kann. Die Ausländer sind die Ablenkung, aber gekürzt wird dann bei allen. Keiner alten Frau, keinem Menschen mit Behinderung, keinem Niedriglohnbezieher geht es jetzt besser.
Es wird hier mit einem eingeengten und verkürzten Gerechtigkeitsbegriff operiert. Leistungsgerechtigkeit ist wichtig und zentral für das Funktionieren einer prosperierenden Gesellschaft. Man darf sie aber nicht mit Markterfolg verwechseln. Um die Mutter mit zwei Kindern, die sich mit drei prekären Minijobs abstrampelt dreht sich’s dann genauso wenig wie um den Hilfsarbeiter am Bau, den Mann im hundertsten mies bezahlten Forschungsprojekt oder die Pflegekraft. Sie leisten Außergewöhnliches, leisten können sie sich aber nichts. Um Gerechtigkeit zu beschreiben möchte ich gerne auf das Bild einer Blume zurückgreifen, deren Blüte viele Blumenblätter hat. Leistungsgerechtigkeit ist eines dieser Blütenblätter. Aber mit einem Blütenblatt schaut unsere Blume nichts gleich, ohne all die anderen Blätter ist ihre Schönheit zerstört. Die anderen Blütenblätter sind die Verteilungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit und die Anerkennungsgerechtigkeit. Und nicht zu vergessen: die Bedarfsgerechtigkeit, also die Frage, was jemand wirklich benötigt. Damit wären wir wieder bei der Mindestsicherung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Martin Schenk: Ich danke auch.