Russlands Dombass-Offensive nach eineinhalb Monaten : EINTRITT IN DIE ENTSCHEIDENDE PHASE

Die Änderung der russischen Militärstrategie mit der Mitte April eingeleiteten Massierung der Kräfte im Rahmen der Dombass-Offensive zeigt nun größere Erfolge. Sewerodonezk wurde bisher zur Hälfte von den russischen Streitkräften eingenommen,[1] und an zwei Frontabschnitten konnte die russische Armee im Mai die Verteidigungslinien der ukrainischen Armee durchbrechen. Dies ist auf das russische Vorgehen zurückzuführen. Die russische Armee besann sich auf ihre Stärke und belegte die Kontaktlinien wochenlang mit Artilleriebeschuss und Bombardierungen, bis einzelne Frontabschnitte nachgaben. So kam es, dass um den 7. Mai die ukrainischen Verteidigungslinien bei Popasna[2] und um den 25./27. Mai die bei Lyman durchbrochen wurden.

Der Brückenkopf von Popasna

Beide russischen Brückenköpfe sind von strategischer Bedeutung. Der bei Popasna kann zur Kontrolle einer der beiden Nachschublinien genutzt werden, die Sewerodonezk über Bakhmut mit dem ukrainischen Hinterland verbinden. Außerdem liegt die nördliche russische Front nur etwa 21 Kilometer Luftlinie entfernt, so dass die ukrainischen Truppen in der Gegend um Sewerodonezk, Lysychansk, Zolote und Hirske Gefahr laufen, vollständig umzingelt zu werden. Laut der russischen Pravda bezifferte der stellvertretende Innenminister der „Volksrepublik Luhansk“ (LPR), Vitaly Kiselev, in einem Interview mit Channel One die Zahl der ukrainischen Soldaten auf bis zu 16.000.[3] Nach Angaben des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Zaluzhny, befinden sich etwa 2.000 Soldaten in Sewerodonezk.[4] Dort hatten russische Truppen Ende Mai große Teile der Stadt und der umliegenden Ortschaften eingenommen, wurden aber seitdem sowohl in der Stadt als auch in den benachbarten Ortschaften Metolkine und Voronove zurückgedrängt.

Die wichtigste Frage stellt sich aber im Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung in diesem Frontabschnitt: Die Kämpfe in Severodonetzk offenbaren erneut die Schwäche der russischen Infanterie im Häuserkampf. Daher ist es unklar, ob sich die ukrainischen Truppen aus dem entstehenden Kessel zurückziehen oder sich im benachbarten Lysychansk einschließen lassen, um den russischen Vormarsch zu bremsen. Diese Frage wird vermutlich auch mit der Einschätzung einhergehen, wann den Ukrainern westliche Waffensysteme zur Verfügung stehen, um auch auf großer Distanz russische Stellungen zielgenau zu beschießen.

Der Brückenkopf von Lyman

Nachdem den russischen Kräften Anfang Mai die Überquerung des Siverskyi Donets an mehreren Stellen misslang, konnte die russische Armee Ende Mai bei Lyman die Linien der Ukrainer durchbrechen. Dieser Brückenkopf kann insbesondere Slowansk und Kramatorsk gefährden.

Bildung kleiner Kessel

Eine weitere Strategie deutete der Milizenchef der sogenannten „Donezker Volksrepublik“, Eduard Basurin, Ende Mai an, als er von der Schaffung kleiner Kessel sprach.[5] Dieser Ansatz ist in der Region Syvatohirsk deutlich zu erkennen, wo die Stadt zunächst von drei Seiten umzingelt wurde, nachdem Russland Anfang dieser Woche die beiden nördlich gelegenen Ortschaften Studenok und Sosnove einnehmen konnte. Russischen Quellen zufolge ist Syvatohirsk bereits gefallen. Die Front zwischen Studenok und Sewerodonezk dürfte in naher Zukunft dem Verlauf des Flusses Siverskyi Donets folgen, den die russische Armee mit Pontonbrücken an verschiedenen Stellen zu überqueren versuchen wird.

Im Gebiet von Severodonezk entsteht ein weiterer kleiner Kessel bei Zolote. Von Popasna aus gelang der russischen Armee Anfang der Woche die Einnahme von Komyshuvakha, das im Nordwesten des von drei Seiten umschlossenen Zolote liegt. Nordöstlich davon liegt Borove, das ebenso bereits von drei Seiten umschlossen ist.

Ein weiterer Kessel entsteht vermutlich auch südwestlich von Popasna, wo das Gebiet um Switlodarsk umkämpft ist.

Ausblick

Der Kampf im Dombass tritt in die entscheidende Phase. Der russischen Armee steht ein Zeitfenster offen, in dem sie in der östlichen Ukraine eine Überlegenheit in der Artillerie und teilweise auch in der Luft verfügt. Zudem hat sie in den letzten Wochen die Front „sturmreif“ geschossen und durch den Stellungskrieg auch den ukrainischen Verteidigern erhebliche Verluste zugefügt.

Dies könnte sich im Sommer ändern, wenn die ukrainische Armee moderne westliche Waffensysteme einsetzen kann und die Ukrainer beispielsweise die russische Nachschublinie bei Izyum unterbrechen und Artillerie mit einer großen Reichweite einsetzen können.

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[1] Am 25. / 28. Mai erreichten die russischen Einheiten den Stadtrand von Severodonezk, am 30. / 31. Mai die Stadtmitte. Hatten bereits 70 Prozent, in den letzten Tagen konnte die ukrainische Armee laut eigener Angabe 20 Prozent zurückgewinnen.

[2] Das russische Verteidigungsministerium vermeldet am 10. Mai die Beendigung der Säuberung der Stadt: https://eng.mil.ru/en/news_page/country/more.htm?id=12420770@egNews

[3] https://english.pravda.ru/news/hotspots/151865-ukrainian_soldiers_entrapped/

[4] https://avia-pro.net/news/unichtozhenie-artilleriyskoy-ustanovki-sposobnoy-nanosit-udary-yadernymi-boepripasami-popalo-0

[5] https://www.understandingwar.org/backgrounder/russian-offensive-campaign-assessment-may-25; https://www.theguardian.com/world/2022/may/27/russia-cauldron-tactic-may-tipping-donbas-battle-favour

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