Tebels Analyse – Schicksalstage für Nordsyrien

US-Vizepräsident Mike Pence und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verständigten sich am Donnerstag letzter Woche in Ankara auf eine 120 stündige Waffenruhe in Nordsyrien.

In diesen fünf Tagen soll sich demnach die kurdische YPG 32 Kilometer hinter die Grenze zurückziehen. Danach will die Türkei das Ende der Offensive erklären und „erhält“ von den USA im Gegenzug einen 32 Kilometer ins syrische Landesinnere reichenden Landstreifen permanent zur Kontrolle. Die USA heben die Sanktionen auf.

Politische Kommentatoren sehen in Inhalt und Sprache der Übereinkunft die Bestätigung der türkischen Forderungen durch die US-Regierung: Die Türkei muss nur ihre Kampfhandlungen einstellen und erhält ihre Maximalforderung erfüllt.

In den Analysen der Absprache tritt aber in den Hintergrund, dass dem Abkommen jegliche Legitimation fehlt: Die letzten US-Soldaten verlassen Nordsyrien, die USA hat sich als Machtfaktor im syrischen Krieg selbst aus dem „Spiel“ genommen. Der Türkei dient das Abkommen also nur, um einen Verhandlungsdruck gegenüber Moskau aufzubauen.

Denn am Dienstag treffen einander Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan in Sotschi. Ankara ließ bereits im Vorfeld keinen Zweifel daran, die „Sicherheitszone“ auch gewaltsam durchzusetzen zu wollen und rief schon die Syrische Armee zum Verlassen des Nordens auf, um die Ansiedlung von etwa 2 Millionen syrischen und hauptsächlich arabischen Kriegsflüchtlingen zu erreichen.

Somit liegt die Zukunft der Kurden nun einzig in Händen Wladimir Putins, der als Mediator auftreten wird: Sein Ziel besteht auf der einen Seite darin, seinen Verbündeten Assad zu unterstützen und hiermit zu zeigen, dass auf Russland als Alliierten Verlass besteht. Hierfür ist ein Machtgewinn Ankaras in Nordsyrien abträglich. Auf der anderen Seite braucht Putin die Türkei, um im Mittleren Osten eine „multipolare“ Weltordnung unter Moskaus Führung aufzubauen.

Moskau hat in den letzten Tagen auch mehrere spannende Signale gesendet: Russland versteht die türkischen Sicherheitsbedenken, ist aber dennoch gegen die Militäroperation. Russland akzeptiert keine militärische Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Syrien und zeigte bereits nicht alleine durch seinen Einsatz von russischer Militärpolizei an der türkischen Kontaktlinie bei Manbij seine Entschlossenheit als Ordnungsmacht zu fungieren.

Zudem sieht Russland im Adana-Abkommen von 1998 die Lösung des Problems: Damals hatten sich Syrien und die Türkei darauf geeinigt, dass die Türkei 10 Kilometer tief ins syrische Grenzgebiet eindringen darf, um „Terroristen“ punktuell und kurzzeitig zu bekämpfen.

Und dann gibt es noch unausgesprochene Signale: Den Abzug der US-Streitkräfte nutzten Syrer und Russen ab Sonntag letzter Woche, um den Westen und Osten Nordsyriens unter ihre Kontrolle zu bringen. Im mittleren Abschnitt stehen syrische Soldaten bereits an die Grenze der türkischen „Sicherheitszone“. Ob sie aber weiter nach Norden vorrücken oder vorgerückt sind, um die verbündeten kurdischen Milizen symbolisch zu unterstützen, oder die Kurden sich selbst überlassen werden, ist momentan unklar.