Analyse – ES LÄUFT NICHT RUND, ES LÄUFT NICHT GUT, ES IST KATASTROPHAL. Ein wenig beachteter Grund der russischen militärischen Schwäche

ANALYSE / „Auf dem Schlachtfeld läuft es nicht gut für uns“, soll der prominente russische Nachrichtenmoderator Wladimir Solowjow laut deutschem TagesspiegelAnfang Oktoberin Rossija 1erklärt haben.1

Knapp davor trug sich die Niederlage der russischen Armee zwischen Kharkiv und Kupjansk und die ukrainische Einnahme der strategisch bedeutenden 20 000 Seelen Stadt Lyman zu. Aus diesem Anlass forderte derPräsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, die Degradierung des verantwortlichen Befehlshabers, Generaloberst Alexander Lapin2 und wurde auch eine Woche danachGeneral Sergej Surowikin auf den Posten des Oberbefehlshabers der russischen Streitkräfte in der Ukraine erhoben. Die Kritik an dem misslingenden Feldzug ist nicht neu. Bereits im Sommer führten Warnungen von Milbloggern an der Strategie der Armeeführung zu einem Treffen ihrer wichtigsten Vertreter mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Noch früher, bereits drei Wochen vor dem russischen Angriff hatte Michail Chodarenok am 3. Februar 2022 in der Moskauer Nesawissimaja Gasetaden Artikel »Vorhersagen blutrünstiger politischer Analysten« [orig.: Прогнозы кровожадных политологов]3 veröffentlicht. Darin hatte der ehemalige Oberst und frühere Leiter der 1. Direktionsgruppe der Operativen Hauptdirektion des Generalstabs der russischen Streitkräfte die wesentlichen Fehleinschätzungen zahlreicher russischer „Analysten“ zurechtgerückt und vor einem Waffengang eindringlich abgeraten. Chodarenok beschrieb in seinem extrem lesenswerten Beitrag, dass die ukrainische Armee weit stärker sei als 2014, seit sie sich nach NATO-Standards ausrichte und dass „niemand […]in der Ukraine die russische Armee mit Brot, Salz und Blumen empfangen“4 werde, nicht einmal die russischsprachige Bevölkerung. Zudem sei derHass der Ukrainer gegen Russland als Motor des Kampfeswillen nicht zu unterschätzenund selbst ein massiver Erstschlag könne die Ukraine nicht niederringen, womit „[…] es keinen ukrainischen Blitzkrieg geben“5 werde, auch weil es Russland anhochpräzisenWaffenmangeln würde. Eine „völlige“ Luftüberlegenheit sei für sich genommen ebenso bedeutungslos, eine Behauptung, dieChodarenokmit den russischen Kriegenin Afghanistan und Tschetschenienbelegte. Eine große Gefahr sah der ehemalige Oberst zudem im Städtekampf:„Die russische Armee könnte also in einem hypothetischen Krieg mit der Ukraine mit weit mehr als nur Stalingrad und Grosny konfrontiert werden.“6 Letztendlich ging erdavon aus, dass der Westen die Ukraine im großen Stilmit Waffen beliefern und die USA „sicherLand-Lease reaktivieren werde.

Chodarenoks Worte lesen sich im achten Monate des Krieges in der Ukraine wie ein aktuelles Situationsbild. Neben den erwähnten Fehleinschätzungen, deren Probleme sich bis zum heutigen Tag in der russischen Kriegsführung fortpflanzen und nur im geringen Maß von der russischen Armeeführung entschärft werden konnten, haben sich weitere Schwächen der Russen im Feld herauskristallisiert: Nach heutigem Anschein bestand bei wichtigen militärischen Entscheidungen bislang ein Vorrang der Politik gegenüber militärischen Erwägungen. Vor allem aber werden die militärischen Möglichkeiten der eigenen Armee überschätzt. Das beginnt mit der Qualität der russischen Soldaten. Ihre Moral war von Beginn an gering. Die Generalität ließ ihre Truppen zunächst im Glauben, in ein Manöver zu ziehen. Mangelnde Ausrüstung, schockierende Berichte über das russische Soldatenleben an der Front, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern, logistische Schwierigkeiten und Nachschubprobleme sowie militärische Misserfolge gegen einen motivierten und zähen Gegner, senkte die Moral der russischen Soldaten und Rosgvardia-Einheiten abermals. Lediglich einige Truppen der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, die Gruppe Wagner und auch tschetschenische Kämpfer gelten als professionell und kampfbereit.

Allerdings besagt ein alter deutscher Ausspruch, dass der Fisch immer erst am Kopf stinkt. Dies zeigt sich in der russischen Armeeführung an einer starren und unbeweglichen Befehlskette, wie sie schon die Armee der Sowjetunion kennzeichnete und lange Reaktionszeiten verursacht7 – ein tödlicher Nachteil gegenüber wendigen ukrainischen Soldaten, die an mancher Front im Stile der Partisanen oder in kleineren Einheiten agieren. Hinzu tritt eine ineffektive Zusammenarbeit von Luftwaffe, Artillerie und Infanterie sowie Schwächen in der Luftaufklärung, wodurch die Ukrainer nach Belieben Truppen und Material an die Front verschieben können.

In den vergangenen Monaten wurde auch ein Mangel an Präzisionsmunition für weitreichende Artillerie und nicht ballistische Raketen wie Marschflugkörper und Hyperschallwaffen deutlich. Wie Mark B. Schneider in USNI spannend erläutert, verdienen die russischen Hochpräzisionsraketenvermutlich kaum ihren Namen.8 Schneider zitiert in seinem Artikel einen ungenannten russischen Militärjournalisten, der schon 2017 darauf hinwies, dass die Genauigkeit der Kalibr Marschflugkörper eine Genauigkeit von etwa 30 Metern besäßen, die „luftgestützte[n]Marschflugkörper Kh-101 eine »Genauigkeit von fünf bis 50 Metern«“ hätten.9 Mark B. Schneider zitiert ebenso den russischen Journalisten Pawel Felgenhauer mit den Worten: „Die Iskander wie auch andere russische nicht-strategische Raketen können nur mit einem nuklearen Sprengkopf wirklich effektiv sein.10

Eine schwere Bürde für die russische Armee bildet auch die Unterlegenheit russischer Waffensysteme gegenüber westlichen Produkten. Ein eindrucksvolles Beispiel liefern die Mehrfachraketenwerfer wie HIMARS, Mars-II und M 270, deren Präzisionsangriffe auf die militärische Infrastruktur wie Munitionsdepots, Ansammlungen von Soldaten, Brücken, Gleise, Befehlsstände die russischen Truppen seit Sommer weitestgehend hilflos gegenüber stehen. Die verwendete GMLRS-Munition zwingt die Russen auch dazu, ihre Munitionsdeports mindestens 70 Kilometer hinter die Front zurückzuziehen, wodurch sich die Logistik weiter erschwert.

Den einzigen Lichtblick bildet den Russen momentan ihre Artillerie, insbesondere wenn sich das Artilleriefeuer auf einen geografisch kleinen Raum von drei Seiten konzentriert. Dann entwickelt die russische Armee eine unglaubliche Feuerkraft, zwar nicht aus Präzision, sondern durch den unablässigen Beschuss, der den Gegner niederdrückt und die feindlichen Positionen einebnet – ein Plan, der bei der Einnahme von Severodonezk und Lysychansk aufging, wo die Gruppe „Mitte“ unter Alexander Lapin und die Gruppe „Süd“ unter Sergej Surowikin zusammenwirkte.

Ausserdem besteht noch eine weitere eklatante Schwäche durch die Anfangskonzeption des russischen Angriffs und den im Lauf der Zeit veränderten Zielen: die Länge der aktiven Frontlinie. Wenngleich diese bereits schon sehr stark verkürzt wurde – siehe den Abzug aus der Gegend von Kiew und von Kharkiv -, beträgt sie nach Aussage des Brigadegenerals Oleksii Hromov, dem stellvertretenden Chef der Hauptabteilung für Operationen des Generalstabs der Streitkräfte der Ukraine Ende September etwa 850 Kilometer.11

Diese Zahl ist schwer vorstellbar: Auf Europa bezogen, entspricht sie einer Luftlinie von Wien und dem norddeutschen Flensburg an der dänischen Grenze, in Kanada der Distanz zwischen Vancouver und Edmonton und in den USA von New York nach Flint in Michigan.

Das bedeutet aber auch nichts anderes, dass ein Angriffsheer von 120 000 Soldaten im Durchschnitt 141 Soldaten pro Kilometer aufstellen kann. Somit stehen die russischen Truppen insbesondere zwischen dem Dnjepr und Huljapol in der ständigen Gefahr, dass die ukrainische Armee einen Durchbruch in diesem momentan nicht besonders heiß umfehdeten Gebiet schafft. Erinnern wir uns: Russische Quellen sprachen von etwa 10 000 ukrainischen Soldaten und einem Zahlenverhältnis von 10:1, die Balaklia einnehmen konnten und die gesamte Front zwischen Kharkiv und Oskil-Fluß zusammenbrechen ließen.

Vielleicht ist auch unter diesem Gesichtspunkt die jüngste russisch Teilmobilmachung zu sehen. Moskau könnte hierdurch die Front für die Wintermonate etwas sichern, wenngleich die „nasse Kälte“, die den Boden matschig und schlammig macht, die russische Armee vermutlich vor weit größere Probleme stellen wird, als die von westlichen Ländern weit besser für den Winter ausgerüsteten ukrainischen Streitkräften.12

1https://www.tagesspiegel.de/politik/auf-weisung-des-kreml-russisches-staatsfernsehen-berichtet-erstmals-von-niederlagen-in-der-ukraine-8723305.html

2https://lenta.ru/news/2022/10/01/guilty/; https://de.topwar.ru/202687-ja-by-razzhaloval-lapina-do-rjadovogo-kadyrov-raskritikoval-komandujuschego-krasnolimanskim-napravleniem.html

3https://nvo.ng.ru/realty/2022-02-03/3_1175_donbass.html

4https://nvo.ng.ru/realty/2022-02-03/3_1175_donbass.html

5https://nvo.ng.ru/realty/2022-02-03/3_1175_donbass.html

6https://nvo.ng.ru/realty/2022-02-03/3_1175_donbass.html

7https://focus.ua/voennye-novosti/513073-sekret-taktiki-vsu

8https://www.usni.org/magazines/proceedings/2022/october/lessons-russian-missile-performance-ukraine

9https://www.usni.org/magazines/proceedings/2022/october/lessons-russian-missile-performance-ukraine

10https://www.usni.org/magazines/proceedings/2022/october/lessons-russian-missile-performance-ukraine

11https://mil.in.ua/en/news/active-front-line-is-850-kilometers-long-military-activity-is-recorded-on-the-territory-of-belarus-general-staff/

12https://militaryland.net/news/ukrainian-winter-is-coming/

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