Das taktische Kalkül von Erdoğans Konfrontationskurs mit Assad und Putin

Was noch vor Wochen unwahrscheinlich schien, nimmt nun konkrete Formen an: Recep Tayyip ErdoğansTürkei will nun islamistische Rebellenmilizen gegen Assads Regierungstruppen und seine russischen und iranischen Verbündeten für eine Gegenoffensive militärisch unterstützen.

Die letzte Rebellenenklave

Schauplatz dieser immer heftigeren Konfrontation bildet die letzte „Rebellenenklave“ in Idlib im Nordwesten Syriens. Seit der Erhebung gegen das Regime von Baschar al-Assad im Jahre 2011 wurde die Provinz Idlib schrittweise zum Sammelpunkt oppositioneller Kräfte und verdoppelte seine Bevölkerungszahl auf etwa 3 Millionen Bewohner. Beherrscht wird das Gebiet von verschiedenen radikalen Islamistenfraktionen: So unterstehen mehr als 70 Prozent der Rebellenenklave der Hayat Tahrir al-Sham (HTS), eine mehrfach umbenannte Islamistenfraktion, die sich von der berüchtigten Terrororganisation al-Qaida herleiten lässt. Im Westen des Rebellengebiets liegt der Einflussbereich der Islamischen Turkestan-Partei mit Kämpfern aus Zentralasien und Uiguren aus China. Auf einige territoriale Inselchen beschränkt sich der Einfluss der National Front for Liberation (NFL), die einen Zusammenschluss verschiedener Islamistengruppen auf Betreiben Ankaras darstellt. Diese NFL ist es auch, die Ankara nun in eine Offensive gegen die syrische Armee führen will. Zu diesem Zweck eröffnet die türkische Armee neue als „Beobachtungsposten“ bezeichnete Militärbasen in Idlib und verlegte bislang laut dem in London ansässigen SOHR mehr als 1 650 Lastwagen mit schwerem Gerät und 6 500 Soldaten in das Nachbarland.

Türkei will drohende Niederlage der islamistischen Rebellenmilizen verhindern

Diese Entwicklung setzte Anfang des Monats mit der Entsendung erster türkischer Militärkonvois ein, um die syrische Armee an der Einmündung der beiden Autobahnen durch Beobachtungsposten zu blockieren. Mit dem syrischen Angriff auf einen dieser Konvois, bei dem türkische Soldaten den Tod fanden, verschärfte Ankara nach diesem 3. Februar seine militärische Strategie und fordert nun ultimativ den Rückzug der Syrer hinter die 12 türkischen Beobachtungspunkte bis Ende Februar, von denen sich nun die Mehrzahl eingekesselt im Machtbereich der syrischen Regierungstruppen befinden.

Wenngleich die Türkei ihre humanitäre Sorge für die Bewohner und Binnenflüchtlinge Idlibs ins Zentrum ihrer Argumentation stellt, so spricht der Zeitpunkt der türkischen Drohgebärden eine andere Sprache: Die syrische Armee und ihre russischen und iranischen Verbündeten konnten Ende Januar die Frontlinie der Dschihadisten durchbrechen, in wenigen Tagen große Territorialgewinne erzielen und nach Ma‘arat an Numan und Saraqib auch die gesamte Trasse der wichtigsten Handelsverbindung Syriens unter ihre Kontrolle bringen. Die auch „Aleppo Highway“ genannte Autobahn verbindet nämlich die Hauptstadt Damaskus mit der Wirtschaftsmetropole Aleppo. Mit dem syrisch-russischen Erfolg geht aber ein Bedeutungsverlust Ankaras in Syrien einher: Im Abkommen von Sotschi hatten sich im September 2018 Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan auf eine „Deeskalationszone“ in Idlib verständigt. Das Abkommen sah die Schaffung einer 14-25 km breiten und ringförmigen entmilitarisierten Zone um Idlib vor. Die Türkei hatte sich damals verpflichtet, die militanten Rebellenmilizen hinter diese Linie zu bringen und Hauptverkehrswege zu öffnen. Allerdings folgten dem Abkommen auf türkischer Seite keine nennenswerten Taten.

Gerade die Öffnung dieser Autobahnverbindungen für den Handel ist aber das offizielle Ziel einer syrisch-russischen Offensive, die seit April 2019 durch unentwegten Artilleriebeschuss und Bombardements auf Teile des Rebellengebietes in Gange ist, Flüchtlingsströme entfesselt und entvölkerte Ruinenstädte zurücklässt, ehe syrische Bodentruppen jeweils zu ihrer Eroberung ansetzen.

Somit befindet sich nun der syrische Präsident Assad, Wladimir Putin und die Kurden durch die Geschehnisse in Idlib in einer unangenehmen Lage: Die türkische Machtdemonstration könnte zum einen ein neues Abkommen mit Russland über den Status von Idlib erzwingen. Es ist aber auch denkbar, dass Erdoğan zum anderen durch die Konfrontation mit Russland seine Schaukelpolitik fortsetzt und nun wieder eine größere Nähe zu den USA sucht. Auch macht sich die USA die aktuelle Situation zu eigen und lässt durch Wortmeldungen des Verteidigungsministers Mark T. Esper und von James Jeffrey Verständnis für die Türkei durchblicken, um ihrerseits wiederum einen Keil zwischen die türkisch-russischen Beziehungen zu treiben.

Eine türkische Annäherung an die USA könnte somit letztlich in ein weiteres US-amerikanisches Entgegenkommen in der „Kurdenfrage“ münden oder den Preis für ein neues Sotschi-Abkommen für Moskau in die Höhe treiben.