»Tebels geopolitische Notizen« | Krieg in Syrien : Das Ringen um Idlib

Tebel-Report |ANALYSE

Nicht einmal eine Woche nach dem ergebnislosen Abschluss der 12. Runde der „Astana-Gespräche“ zwischen Russland, der Türkei und dem Iran in der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan, startete die Syrisch-Arabische Armee (SAA) am letzten Tag im April diesen Jahres mit russischer Luftunterstützung eine begrenzte Offensive gegen die letzte größere zusammenhängende Rebellenhochburg in Syrien: Idlib.

Putins »Mühle«

Damit schloss Wladimir Putin eine »Mühle«, die er mit der Vereinbarung von Sotschi im September 2018 geöffnet hatte. Die damalige Übereinkunft zwischen Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan sah eine 15 bis 20 Kilometer breite „Deeskalationszone“ an der Grenze zum Rebellengebiet vor – eine Pufferzone, hinter die sich die Rebellenfraktionen bis Mitte Oktober 2018 zurückziehen sollten.

Fortan sollten hierdurch Raketenangriffe von Dschihadisten auf den russischen Luftwaffenstützpunkt Hmeimin und auf syrische Städte verhindert werden. Putins List sah vor, dass somit alle Rebellenmilizen ihre erste Verteidigungslinie freiwillig zu räumen und – so dies nicht geschehen möge – die Türkei den Syrern und Russen die militärische Durchsetzung abzunehmen hätte. Nachdem radikale Milizen vom Waffenstillstand ausgenommen wurden und überdies Russland und die Türkei nicht miteinander festgelegt hatten, welche Gruppe nun als terroristisch gelten sollten, war es Syrien und Russland auch trotz ausgehandeltem Waffenstillstand möglich „Terroristen“ zu beschießen.

Erdoğans Antrieb

Der Wert des Sotschi-Abkommens für die Türkei bestand indessen in erster Linie darin, einen wertvollen Zeitgewinn zu erzielen und durch direkte Präsenz in Syrien wie auch durch seine ferngesteuerte Freie Syrische Armee (FSA) eine gewichtige Rolle in zukünftigen Friedensverhandlungen spielen zu können. Außerdem erbrachte die Übereinkunft Prestige, Geltung und jenen überregionalen Stellenwert, den die Türkei für sich erwartet. Ein weiterer Hintersinn des türkischen Idlib-Engagements besteht aber auch in der Absicherung jener nordsyrischen Kurdengebiete, die der Türkei im Rahmen seiner beiden Invasionen, den Operationen Euphratschild (2016/2017) und Olivenzweig (2018), in die Hände fielen. Diese Gebiete zwischen Afrin und Jarabulus bindet Ankara seither verstärkt an die Türkei an (Türkisch als Schulsprache, neue ID-Karten, Gehälter und Konten über türkische Banken, …) und zielt darauf ab, das kurdische Siedlungsgebiet durch Druck auf die kurdische Zivilbevölkerung und durch das Ansiedeln von Dschihadistenfamilien aufzubrechen und dieses Grenzgebiet in ein sunnitisch-islamistisches Bollwerk gegen Assad zu verwandeln und kurdische Selbstbestimmungsforderungen zu ersticken.

Allerdings durchkreuzte Anfang 2019 die Takfir-Miliz Hayat Tahrir al Scham (HTS) (= ehem. al-Nursa-Front bzw. al-Qaida) hier Ankaras Pläne gründlich, indem sie trotz augenscheinlicher ideologischer Sympathie für Ankaras Syrien-Politik die türkisch kontrollierte FSA weitgehend aus Idlib vertrieb und sich dem türkischen Plan widersetzte, sich ebendieser einzugliedern.

Hinzu traten ab Januar 2019 Drohnenangriffe auf den russischen Militärflughafen Hmeimim und Raketenangriffe auf syrische Städte, für die Rebellenmilizen verantwortlich gemacht werden. Aber auch die syrische Armee und ihre russischen Verbündeten beschossen Positionen der Dschihadisten mit Artillerie und Raketen seit Jahresbeginn. Alleine für den März bezifferte die türkische Anadolu Agency (Anadolu Ajansı) die „Verletzungen gegen den Waffenstillstand“ mit 6.422 Verstößen und hatte auch David Swanson, UN-Beamter für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) bereits zu Beginn der syrisch-russischen Offensive von über 138 000 geflüchteten Menschen seit Februar gesprochen.

Die Eröffnung der Offensive

Unter diesen Vorzeichen eröffnete am 30. April 2019 die syrische Armee die Offensive mit dem Abwurf von Fassbomben auf Städte und Ortschaften in Idlib südlich der gleichnamigen Hauptstadt.

Schon zu Beginn der Offensive bildeten sich mit der Umgebung von Jisr-Ash-Shogur und dem nordwestlichen Hama zwei Fronten der syrischen Armee heraus: Jisr Shogur und die strategisch wichtigen Kabinah-Hügeln, weil sie eine Kontrolle über die Autobahn M4 ermöglicht – eine wichtige Wirtschaftsader, die die Küstenstadt Latakia mit Aleppo verbindet. Den zweiten Vorstoß setzte die syrische Armee in der Umgebung von Qalaat al-Madiq, um die al-Gharb-Ebene, den russischen Militärflughafen Hmeimim und die Stadt Mahradeh vor Rebellenangriffen zu schützen.

Erste Erfolge

Nach raschen Erfolgen in Tal Othman (6. Mai) oder die kampflose Einnahme von Qalaat al-Madiq (8./9. Mai) erobern die syrischen Truppen nach wechselhaftem Kampf Kafr Nabudah (um den 26. Mai), das „Tor nach Idlib“ und Anfang Juni mehrere Ortschaften im Norden der strategisch wichtigen Stadt an der Straße nach Khan Sheikhun. Seither steckt die syrische Armee allerdings in ihrem Vormarsch fest und mussten sogar Geländeverluste bei einer Gegenoffensive der HTS hinnehmen.

Als Hauptgrund kann die Aufrüstung und logistische Unterstützung von Rebellenfraktionen durch die Türkei angenommen werden, wie sie seit Mitte Mai vermutet wird. Neben der Entsendung von Kämpfern der Freien Syrischen Armee (FSA) aus dem nördlichen Aleppo wiegt insbesondere die Lieferung von US-amerikanischen TOW-Panzerabwehrraketen besonders schwer, deren Beschaffung sich manche Analysten ohne Einverständnis der USA kaum vorstellen können. Al-Monitor berichtet zudem ebenso von Grad-Trägerraketen aus russischer Produktion, die im Rahmen bilateraler Militärabkommen von Russland an die Türkei geliefert worden waren und nun gegen Syrer und Russen eingesetzt werden könnten.

Diese überraschend hohe Kampfkraft der Islamisten offenbart auch die begrenzten militärischen Möglichkeiten Moskaus: Denn sowohl die syrische Armee wie auch die in Syrien eingesetzten russischen Kräfte sind verhältnismäßig schwach.

Salamitaktik

Um dies zu kaschieren und auszugleichen greift Moskau – im übertragenen Sinne – eine alte Taktik der Sowjetunion im Kalten Krieg auf, dieSalamitaktik. Putins Strategie basiert also darauf, die gegnerischen Kräfte aufzuspalten, um sie häppchenweise zu verspeisen. Dementsprechend entstand die Idee der „Deeskalationszonen“ im südlichen Syrien (al-Dumayr, Ost-Ghouta, …), die eine nach der anderen aufgehoben und angegriffen wurde. Unter diesem Hintergrund wird es auch deutlich, dass die begrenzte Militäroperation in Idlib, die eine Öffnung der Autobahnen M4 und M5 anstrebt, eigentlich aber darauf abzielt das Rebellengebiet zu verkleinern und zu zerteilen. Gründe für weitere Offensiven böten dann zukünftige Rebellenangriffe auf die beiden Autobahnen oder benachbarte Städte, um so weitere „Scheibchen“ abzubrechen.

Moskaus Syrien-Politik und geostrategische Erwägungen

Mit welchem Zeithorizont Russland aber dieses Ziel verfolgen kann, hängt mit der übergeordneten geopolitischen Strategie Putins zusammen. Und hier nimmt die Beziehung zur Türkei eine gewichtige Stellung ein. Durch die Türkei und den Iran kann Russland daran arbeiten, sich im Mittleren Osten abseits der US-Hegemonie als Ordnungsmacht zu etablieren und – für Moskaus geopolitische Ambitionen noch besser – die Türkei vom westlichen Bündnis weiter entfremden. Gerade in dieser Hinsicht zeichnet sich ein großer Erfolg für Wladimir Putin ab: Erst in der letzten Woche bestätigte Erdoğan den Kauf des russischen S-400 Raketenabwehrsystems und die russisch-türkische Zusammenarbeit an dem Nachfolgemodell, der S-500. Ebenso steht Ankaras Ankauf des russischen Mehrzweckkampfflugzeuges mit Tarnkappentechnologie im Raum: die Sukhoi Su-57.

Dieser Erfolg impliziert aber auch die Notwendigkeit taktischen Fingerspitzengefühls: Russland muss die Türkei als gleichwertigen Partner behandeln. Wenngleich es keineswegs im Sinne Moskaus ist, dass die Türkei weiteren Einfluss in Syrien gewinnt, so wird Russland den Erfolg einer aktuellen begrenzten Offensive abtauschen müssen. Dies um so mehr, als sich Erdoğan wirtschaftlichen Schwierigkeiten und innenpolitischen Problemen gegenübersieht. Auch seine Außenpolitik gleicht momentan einem Trümmerfeld: Noch vor wenigen Jahren in der islamischen Welt als Hoffnungsträger gesehen, schaffte es Erdoğans nationalistisch-religiöse Außenpolitik in wenigen Jahren einen bedeutenden regionalen Handlungsspielraum zu verspielen. Sympathie für radikal-islamische Kräften wie die Muslimbrüderschaft und das Engagement in nordafrikanischen Staaten im Hinterhof Ägyptens belastet das Verhältnis zu Kairo. Das Ringen um einen bedeutenden Platz in der sunnischen Staatengemeinschaft, die Unterstützung Katars und die Pacht der Insel Suakin brachte die Türkei weiter in einen Gegensatz mit dem arabischen Staatenblock um Saudi Arabien. Seine aggressive Nachbarschaftspolitik isolierte die Türkei ebenso im östlichen Mittelmeerraum. Das Übrige taten Erdoğans Schaukelpolitik zwischen den USA und Russland, die wiederkehrenden Drohungen über geplante Invasionen ins nördliche Syrien (Tel Rifaat bzw. Manbij und der kurdische Norden Syriens östlich des Euphrats) und letztlich der Ankauf der S-400. Somit ist es in Russlands Interesse, Erdoğan das Gesicht wahren zu lassen und ihm begrenzte außenpolitische Erfolge zu gewähren. Manche Analysten sehen daher die Möglichkeit, dass Ankara das südliche Idlib Syrien und Russland überlassen könnte, um ein Durchgriffsrecht in der Gegend von Tel Rifaat zu erlangen, von wo aus die Kurden schmerzhafte Angriffe auf Positionen der FSA und der türkischen Armee in Afrin, A‘zaz und der Gegend von al-Bab starten.

Ausblick

Die nächsten Wochen könnten hier zu neuer Bewegung im Ringen um Idlib führen, beginnt am 28. Juni der G20 Gipfel in Osaka und findet die nächste Runde des Astana-Gespräche im kommenden Monat statt. Bis dahin werden in Idlibs Süden mit unverminderter Härte die Waffen sprechen – alleine, damit sich die einzelnen Akteure des Syrien-Krieges für etwaige Verhandlungen eine bessere Ausgangsposition verschaffen.