WIE DIE TEMPELBERG-PROBLEMATIK MIT DEM ANGRIFF DER HAMAS AUF ISRAEL ZUSAMMENHÄNGT – EINE SPURENSUCHE

WIEN, 20. Mai 2021. Am vergangenen Montag eröffnete die palästinensische Hamas ihre Angriffsserie auf israelisches Staatsgebiet. Sie begründete den Raketenhagel mit einem ergebnislos verstrichenen Ultimatum gegenüber israelischen Sicherheitsbehörden, den Tempelberg in Jerusalem zu verlassen.

Jerusalems Tempelberg (bzw. arab. al-Haram aš-Šarīf) ist für das Judentum und den Islam von besonderer Bedeutung. Juden erinnert er an den Tempel Salomon sowie an den herodischen Tempel als Aufbewahrungsort der Bundeslade mit den Tafeln der 12 Gebote. Ein noch heute erhaltener Teil der Stützmauer des Plateaus an der Westseite des Tempelberges ist als Klagemauer bekannt.

Mehr als 600 Jahre nach der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. errichteten Anhänger des noch jungen Islam auf dem einstigen Tempelareal eine Moschee. Ein weiterer Sakralbau entstand noch im 7. Jahrhundert, der in Verbindung mit Mohammeds Nachtreise und Himmelfahrt steht: Während nur einer Nacht habe Mohammed den Weg von Mekka nach Jerusalem und wieder nach Mekka zurückgelegt. Auf dem (später vom Felsendom überbauten) Fels auf dem Plateau des Tempelberges setzte er zu seiner physischen oder spirituellen Himmelsfahrt an, in deren Verlauf Mohammed in den Himmelssphären mit Propheten – darunter Adam, Jesus und Moses – zusammentraf und Allahs Nähe erfuhr. Jerusalem wurde damit zur drittwichtigsten heiligen Stätte des Islam nach Mekka und Medina.

Abgesehen von der Kreuzfahrerzeit blieb der Zugang zum Tempelberg für die nächsten Jahrhunderte Muslimen vorbehalten. Einerseits, weil die Muslime Juden den Zutritt verwehrten und andererseits, weil Rabbiner ebenso den Besuch des Tempelberges aus religiöser Erwägung verboten und erst in den letzten Jahren eine Abkehr von dieser Praxis erfolgt.

Erst der 6-Tage-Krieg und die Einnahme des arabischen Ostteils von Jerusalems durch Israel, öffnete den Tempelberg in einem sehr eingeschränkten Maß für Menschen anderer Religion. Israel vermied aber, seine Herrschaft deutlich zu zeigen, sondern beließ die Verwaltung des Areals bei Jordanien sowie der palästinensischen Waqf-Behörde und begnügte sich mit der Präsenz von Sicherheitskräften in der Umgebung des Plateaus und an den Zugängen zum Tempelberg, um den Nahostkonflikt nicht zu einem religiösen Konflikt auszuweiten. Außerdem legte der Status quo fest, dass Angehörige anderer Religionen nur ein Besuchsrecht eingeräumt wurde, alleine aber Muslime das Recht besäßen, auf dem Plateau zu beten.

Nur bei Unruhen schreiten die israelischen Sicherheitskräfte ein. In einem Beitrag der Rheinischen Post aus dem Jahr 2013 erklärt der Leiter der israelischen Sicherheitskräfte auf dem Tempelberg, Moshe Bareket, in plastischer Weise, dass es zu Ausschreitungen kommt, wenn politische Themen die islamischen Gemüter erhitzen oder Fatah- und Hamas-Anhänger in einer innerpalästinensischen Auseinandersetzung aneinandergeraten. Die israelischen Sicherheitskräfte stürmen das Areal, wenn dabei eine radikale Gruppierung versucht, das einzige für Nicht-Moslems auf den Tempelberg führende Tor zu blockieren. Zuletzt ereignete sich dies am vorletzten Wochenende und dem anschließenden Montag, dem Tag des Ultimatums der Hamas an die israelischen Sicherheitskräfte, den Tempelberg zu verlassen.

Die Tempelberg-Problematik zeigt sich aber ebenso eingebettet in den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in Ostjerusalem. Jerusalem bildet in israelischer Sicht ein unteilbares Ganzes, während die Palästinenser auf Ostjerusalem als Hauptstadt eines künftigen palästinensischen Staates pochen und sich auf die Ansicht der internationalen Gemeinschaft stützen, die Israels Annexion des Ostteils der Stadt nicht anerkennt.

Damit ist das Verhältnis von Juden und Palästinensern im Jerusalem von tiefen Misstrauen und zahlreichen Provokationen geprägt, weil beide Seiten einander verdächtigen, den Status quo am Tempelberg aufweichen zu wollen. Zu Beginn des diesjährigen Ramadans kam es in der Monatsmitte des Aprils beispielsweise zu gewalttätigen Protesten von Palästinensern, die gegen die strengen israelischen Coronaregeln und die Sperre eines beliebten abendlichen Versammlungsortes für Moslems in Israel protestierten.

Die Sorge, dass Israel den Status quo von 1967 auflösen könnten, nährt wiederum die Forderung einer kleinen, aber bis in die Knesset vernetzte messianischen Gruppierung, die den Bau eines dritten jüdischen Tempels fordert. Auf der anderen Seite versuchen Palästinenser als Juden erkennbare Besucher den Zugang zum Tempelberg zu verwehren und sie am Gebet zu hindern. Sogenannte murabitun (Glaubenswächter) kommen dann aus der al-aqsa-Moschee und versuchen mit „Allahu Akbar“-Rufen gläubige Juden zu vertreiben, wie al-Monitor und die Monde diplomatique berichteten. Stimmen in Israel sprechen außerdem davon, dass sich die palästinensische Faqr-Behörde in den letzten Jahren von Islamisten instrumentalisieren lässt.

Weitere Spannungen erzeugt ein Rechtsstreit in Ostjerusalem. Seit Monaten erhitzen sich die Gemüter an der drohenden Zwangsräumung von acht arabischen Familien aus Häusern in Sheik Jarrah, einem arabisch-dominierten Stadtviertel Jerusalems. Der Fall liegt nun bei Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit und soll nach dem 8. Juni entschieden werden. Zur Anwendung kommt dabei ein Gesetz aus dem Jahr 1970, dass es Juden erlaubt, ihr Eigentum zurückzufordern, das nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 unter jordanische Kontrolle geraten war. Israel Heute sieht in den letzten Jahren eine Umdeutung des Gesetzes, das „ursprünglich […] nur für unbewohnte Häuser gelten« sollte, wie das online-Medium berichtet. »Jetzt haben es ultranationalistische Nichtregierungsorganisationen wie Ateret Cohanim und Elad auf diese Häuser abgesehen, um die arabischen Bewohner durch jüdische Familien zu ersetzen. Dies ist Teil eines Projekts, wie einige behaupten, um die jüdische Bevölkerung in Ost-Jerusalem auf Kosten der arabischen Bewohner zu vergrößern. Infolgedessen sind über 100 Familien gefährdet, ihre Häuser zu verlieren, die meisten von ihnen wohnen in den Vierteln Sheikh Jarrah und Silwan in Ostjerusalem

Ein besonderes Interesse, dass der Konflikt um den Tempelberg und die Spannungen mit Israel nicht abebben, liegt aber bei der palästinensischen Hamas, die in zahlreichen Staaten als Terrororganisation gilt. Sie ist der palästinensische Zweig der Muslimbruderschaft und zielt unverhohlen auf die Vernichtung Israels ab.

Mit dem Ultimatum und den seither anhaltenden Raketenangriffen auf Israel zielt die Hamas aber in erster Linie auf ihre eigene Anhängerschaft in den Palästinensergebieten ab. Ihr Einsatz gegen die israelischen Sicherheitskräfte soll vermitteln, dass sie sich kompromisslos für die Sache der Palästinenser einsetzt. Dies ist als Spitze gegen den verhältnismäßig unbeliebten Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas, der seit der letzten Wahl im Jahr 2005 ohne weitere demokratische Legitimation regiert und erst vor wenigen Tagen die für den 22. Mai 2021 angesetzte Parlamentswahl unter einem fadenscheinigen Grund absagte.

Israelische Sicherheitskräfte am Tempelberg bieten auch stets die Möglichkeit, religiöse Gefühle der islamischen Welt gegen Israel anzusprechen. Damit erreicht die Tempelberg-Problematik eine internationale Dimension. Denn letztlich kochen im Hintergrund Mächte wie der EU-Beitrittskandidat und NATO-Staat Türkei und der Iran ihr islamistisches Süppchen. Sie stehen im Verdacht, die Hamas zu unterstützen, um die jüngste Annäherung Israels zu mehreren moslemischer Staaten zu blockieren. Zudem geht Dr. Kobi Michael, der ehemalige stellvertretende Generaldirektor des Ministeriums für Strategische Angelegenheiten laut Israel Heute davon aus, dass die Türkei gleichzeitig den Sonderstatus der Jordanier am Tempelberg unterminieren und die Palästinensische Autonomiebehörde schwächen möchte, um ihren eigenen Einfluss in der Region zu stärken.

So wird die eben ausgesetzte militärische Konfrontation letztlich als Kernergebnis erbringen: Die Hamas ist militärisch geschwächt und geht als Verlierer aus dem Konflikt mit Israel. Israel wird deeskalierend wirken. Dies kann sich auf die möglicherweise bevorstehenden Enteignungen im arabischen Viertel Jerusalems auswirken. Der Tempelberg wird weiterhin aus islamistischer Richtung instrumentalisiert werden. In einen „Religionskrieg“ der islamischen Welt gegen Israel führt die Tempelberg-Problematik in absehbarer Zeit aber bestimmt nicht.

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Bildquelle: Image by Christine Schmidt from Pixabay